Die Kirche wird zum Opernhaus
WAZ Gelsenkirchen, 29.08.2009, Anne Bolsmann


Ab dem 6. September finden Konzerte des Musiktheaters im Revier in der benachbarten Kirche St. Georg statt. Ein Blick hinter die Kulissen

Ungewohnte Klänge dringen derzeit aus der Kirche St. Georg an der Florastraße: Ein Klangteppich aus Flötentönen, Streicherpassagen und Schlagzeugeinlagen breitet sich im Kirchenschiff aus. Die Neue Philharmonie Westfalen probt hier für die Eröffnungsgala der neuen Saison des Musiktheaters im Revier, die am kommenden Sonntag, 6. September, hier in St. Georg stattfinden soll. Eine Premiere für die Kirche: Wann passiert so etwas schon einmal, dass ein Gotteshaus zum Opernhaus wird?
Da das große Haus des MiR seit Monaten wegen Renovierungsarbeiten und einer neuen Dachkonstruktion geschlossen ist, suchten Intendant Michael Schulz und seine Mannschaft nach einem Ausweich-ort für Opern und Konzerte – und fanden diesen wenige Gehminuten vom Musiktheater entfernt in der Basilika St. Georg im neuromanischen Stil. Die Akustik des Kreuzförmigen Baus ist schon etwas besonderes, aber nicht nur für die Ohren wird hier viel geboten, auch das Auge kann etwas erleben: Den großen „Heiligenschein”, der als riesiger Lichterkranz über dem zur Bühne umfunktionierten Altarraum schwebt, etwa. Oder die vielen bunten Fenster, die bei Sonnenschein ein ganz besonderes Licht in den Raum zaubern.
Das MiR-Team hat hier kräftig gewirkt in den vergangenen Wochen, um das Kirchenschiff umzubauen in einen optimalen Klangraum: Die Treppen zum Altar wurden mit einem Bühnenpodest überbaut, der Chorraum im hinteren Teil der Kirche wurde mit einer dunklen Wand abgeteilt, Brücken für die Beleuchtung wurden mit Gurten an großen Säulen befestigt. Direkt im Eingangsbereich findet die Abendkasse ihren Platz, mobile Garderobenstangen mit hunderten von Kleiderbügeln reihen sich in den langen Seitengängen aneinander und stehen hier auch schon einmal direkt neben den hölzernen Heiligenfiguren der Kirchengemeinde. Und das Schmuckstück, der Altar, steht inmitten einem Meer von Notenständern. Das Zusammenleben von Kultur und Kirche scheint – optisch zumindest – schon jetzt recht gut zu funktionieren. Alles ist jedoch so angelegt, dass es nach dem MiR-Gastspiel keine Spuren hinterlassen wird.
Rund 650 Plätze bieten derweil die hölzernen Kirchenbänke, die ab sofort den Zuschauerraum des MiR bilden, also zeitweise zumindest, denn gemietet ist die Kirche bis Mitte Januar. Das Große Haus des Musiktheaters soll jedoch schon Wochen zuvor, am 15. Dezember, wieder mit neuem Gesicht seine Türen öffnen. Bis zum Eröffnungsabend in St. Georg sollen auch die letzten logistischen Probleme geklärt sein: Dann werden Toilettenwagen vor der Tür für die Opernbesucher bereit stehen – und ein kleines Cafe´ soll in den Pausen für das leibliche Wohl der Gäste sorgen. Und auf die Akustik der Kirche sind alle jetzt schon gespannt. . .

Es läuten in großer Harmonie


WAZ Gelsenkirchen, 23.12.2007, Von Oliver Schmeer, PDF
"Süßer die Glocken nie klingen. . ." Anlass genug für eine Weihnachtsgeschichte über Kirchengeläut. Sie scheiterte fast an zu steilen Treppen und wurde ganz anders als gedacht. Weil die älteste Glocke doch nicht in der St. ...

... Georg-Kirche hängt, sondern als katholische in einer evangelischen Kirche DREIKLANG GELSENKIRCHEN, GLOCKEN UND DER HEILIGE GEORG Hell und klar erklingt die erste; weicher, runder die zweite; dunkel und raumfüllend die dritte. Hermann Stenns hört sie leicht heraus, auch heute Abend, wenn sie wohl ab viertel nach sechs zur Christmesse rufen: Die drei Glocken hoch oben im Turm "seiner" St.-Georg-Kirche.

Dabei ist die klangliche Konkurrenz, zumal an diesen christlichen Festtagen groß: St. Josef in Schalke, die Propsteikirche St. Augustinus und die evangelische Alstadtkirche, sie alle läuten, gewaltig. Doch der 70-Jährige hört das St.Georg-Trio heraus. "Das ist ein Stück Heimat für mich", sagt der rührige Kirchenmann, lange Jahre Pfarrgemeinderatsvorsitzender in St. Georg.

Es ist lange her, dass der 70-Jährige selbst hinaufstieg, in den Glockenturm. Kein Wunder. Nach verträglichen Steintreppen windet sich eine arg schmale gußeiserne Wendeltreppe in den Dachstuhl. Damit nicht genug. Hühnerleitergleich geht es wohl acht Meter weiter hinauf, um dann die nächste hölzerne Sprossenleiter zu erklimmen, was sich auch der Autor angstvoll erspart. Erst dort, gut 50 Meter hoch hängen die drei Glocken hinter den Schallfächern der Turmfenster.

Einen Küster ließ es schwer wanken, berichtet Sebastian Glenz, einer der helfenden jungen Hände in der Gemeinde, als dieser vor Jahren im Glockenturm stand und das elektrisch gesteuerte Geläut nicht abgestellt war. Nicht genug Hände hat der Mensch, um sich zugleich festzuhalten und die Ohren zuzuhalten. Die Vibration spürt man bis zum Fundament der Kirche, beschreibt Sebastian Glenz.

Wechselvoll ist Glockengeschichte von St. Georg. Die nur eine "überlebt" hat, die kleinste und die jüngste, die St. Josef-Glocke. Zu viert wurden sie einst nach ihrem Guss in der Glockengießerei im westfälischen Gescher 1908 in die neue Kirche gebracht und geweiht. Zu klein war dann 1917 die St. Josef-Glocke: So blieb ihr das Schicksal der großen Schwestern erspart: der Schmelzofen des kriegerischen Kaiserreichs.

Das gleiche Schicksal ereilte die 1923/24 nach vielerlei Spenden in Gescher erneut gegossenen Glocken: Bombentreffer im November 1944 zerstörten sie und ließen sie in der Verhüttung enden. Bis - wieder - auf St. Josef. Und die kleine Standhafte konnte 1951 wieder im Dreiklang klingen: Vom Hamburger "Glockenfriedhof", wo an die 10 000 Glocken gelagert und vor den Schmelzöfen bewahrt worden waren, teilte das Erzbistum Paderborn der Gelsenkirchener Gemeinde zwei Glocken zu. Man nahm sie nur zu gerne und Weihnachten in 1951 läuteten sie erstmals gemeinsam. Man mag wohl registriert haben, dass die schwere, 1300 Kilogramm aufbringende Totenglocke das Jahr 1788 trägt, die andere von J. Georg (!) Herold gegossene das Jahr 1674.

Die Geschichte der beiden Glocken klärte sich erst später. Ende der 80er Jahre die der jüngeren, als ein Heimatforscher, Prof. Pokorny aus Soest, für schlesische Landsleute die neue Heimat ihrer Glocke aus der St.Thomas-Pfarrkirche im schlesischen Katscher besuchte, nachdem eine WAZ-Leserin damals auf einen Artikel zu den Glocken ("Zum Bier-Läuten tönen die Oberschlesier") gestoßen war. Der Professor ließ sich von Höhenbeständigeren die umfänglichen lateinischen Inschriften der Glocke aufschreiben, weil auch er damals die steilen Stiegen besser mied. So kam heraus, dass die Bronze sogar von 1737 stammt und nach einem Sprung eben 1788 neu gegossen wurde. Geklärt wurde auch, dass sie in "d" erklingt und nicht in "f".

2002 meldeten sich dann "Nachfahren" aus dem Heimatort der ältesten Glocke anno 1674. Das Ehepaar Vogt wandte sich an die St. Georgs-Gemeinde, wollte mehr wissen über "ihr" Geläut aus der St. Anna-Kirche im schlesischen Brunzelwaldau (heute Brosniszow). Die Inschriften stimmten überein, das Jahr des Gusses, der Name des Gießers ebenfalls. Bilder schickte man den Vogts zu. Die Tonaufnahme ist man noch schuldig.

"Es läuten nun in großer Harmonie die Glocken aus Schlesien (1674), aus Oberschlesien (1788) und Westfalen (1908)", steht in einem Pfarrbrief von 2003. Und das, hofft die Gemeinde, noch lange. Denn eigentlich sollte St. Georg in der großen Bistums-Schließungsrunde aufgegeben werden. Das konnte verhindert werden - mit Mahnwachen und - eben Glockengeläut. Das ansonsten zu kirchlichen Anlässen zu hören ist. Freilich nicht nur: 1997 ließ der damalige Pfarrer Tepke zum Schalker Uefa-Cup-Sieg die Glocken durch Schalke und die Altstadt erschallen.

 

Als der Widerstand begann


Es ist ein Jahrestag, der anregt, sich zu erinnern: An einen Kampf, den Mitglieder der Gemeinde St. Georg für den Erhalt ihrer Kirche gemeinsam und unermüdlich ausgefochten haben.

Am Sonntag jährte sich erstmals die Ankündigung von Ruhrbischof Felix Genn, in der die Schließung von St. Georg bekanntgegeben wurde. "Wir waren damals alle völlig überrascht und entsetzt, denn bis zu diesem Zeitpunkt hieß es, unsere Kirche stehe nicht auf der Abschussliste", erinnert sich Sebastian Glenz vom Kirchenvorstand. "Gleich am nächsten Tag haben wir mit dem Widerstand begonnen".

Mit einem "Tag der offenen Tür" gedenken die Mitglieder ihrer Protestaktionen und eines errungenen Teilerfolges: Mahnwachen, Demonstrationen und Unterschriftensammlungen haben auf die geplante Schließung aufmerksam gemacht und Menschen aller Konfessionen aus unterschiedlichen Städten angelockt. "Bischof Genn hat sich bei uns entschuldigt und die Möglichkeit eingeräumt, St. Georg als Filialkirche der Großgemeinde St. Augustinus zu erhalten, bis ein weiterer Nutzungszweck gefunden wird", so Glenz über die Zukunft St. Georgs nach der Umstrukturierung. Konkrete Ideen für eine spätere "Umnutzung" des vorerst als Filialkirche weitergeführten Gotteshauses sowie Sponsoren werden noch gesucht. Gestern konnten Besucher sich durch die Kirche führen lassen, die große Krippe bestaunen und bei kostenlosem Kaffee und Kuchen über die Situation sprechen. Elke Nickel (34), aktives Gemeindemitglied, blickt ebenfalls zurück: "Ein Jahr kämpfen hat sich gelohnt", sagt sie, "diese Kirche ist ein Stück Zuhause für mich, ich bin hier groß geworden, wurde hier getauft, habe Kommunion, und Hochzeit erlebt. Diese Kirche ist ein wichtiges Zeichen, sie darf nicht geschlossen werden." YBU
Die Gemeinde will das Gotteshaus auf jeden Fall erhalten. Es steht unter Denkmalschutz.


WAZ 15.01.2007 / Lokales / Gelsenkirchen

 

St. Georg bleibt einen ganzen Tag geöffnet


Am 14. Januar jährt sich die Verkündung des Hirtenwortes von Ruhrbischof Felix Genn zum ersten Mal. Aus diesem Anlass bleibt die Kirche St. Georg (Florastraße) nach der Messe um 11 Uhr den ganzen Tag bis zur Abendandacht um 18:30 Uhr geöffnet. Die voraussichtlich letzte Christmette in der von der Schließung bedrohten Kirche (die WAZ berichtete) fand an Heiligabend statt.

Die Krippe, eine der größten und schönsten der Stadt, kann vom 27. Dezember bis zum 7. Januar sowie am 10., 12. und 13. Januar jeweils in der Zeit von 15 bis 17 Uhr besichtigt werden. Auch diese Krippe ist in diesem Jahr möglicherweise letztmalig zu sehen.

WAZ 27.12.2006 / Lokales / Gelsenkirchen

 

Ein besonderes Fest



Am 5. August vor 100 Jahren wurde der Grundstein für die Kirche St. Georg an der Florastraße gelegt. Gemeinde feiert am Samstag mit Weihbischof Franz Vorrath
Entschieden ist immer noch nichts. Die Mitglieder der katholischen Kirchengemeinde St. Georg an der Florastraße warten immer noch auf eine endgültige Entscheidung von Ruhrbischof Dr. Felix Genn zum Schicksal des Gotteshauses. Bislang steht lediglich fest, dass das Bistum Essen St. Georg solange als Filialkirche finanziert, bis eine Anschlusslösung gefunden wurde.

Unterdessen bereitet ein Organisations-Komitee die Feierlichkeiten für einen "runden Geburtstag" vor: Am 5. August vor einhundert Jahren wurde der Grundstein für die Kirche St. Georg gelegt. Die Gemeinde nimmt dieses Datum zum Anlass für ein "besonderes Fest", wie Sebastian Glenz vom Organisations-Komitee ankündigt. Glenz und seine Mitstreiter gehen nach eigenem Bekunden nämlich davon aus, dass St. Georg 2008, wenn der 100. Jahrestag der Weihe ansteht, als eigenständige Pfarrei nicht mehr existieren wird.

Das Fest zur Grundsteinlegung beginnt am kommenden Samstag, 5. August, um 17 Uhr mit einer Messe in der Kirche. Weihbischof Franz Vorrath hat sich dazu angesagt, heißt es. Nach dem Festgottesdienst beginnt ein Sommerfest rund um die Kirche im Bereich der Franz-Bielefeld-Straße. Bei schlechtem Wetter wird im Pfarrsaal gefeiert.

Bei dem Fest gibt es nach Glenz´ Worten dem 100. Jahrestag angemessene Preise: Bratwurst, Pommes und Bier vom Fass sollen jeweils nur 100 Cent kosten. Zu diesem Preis wird auch die eigens für den Tag zusammengestellte Festschrift angeboten. In dem Heft ist die Geschichte von Kirche und Gemeinde nachzulesen. Im Jugendheim werden Kinder kostenlos betreut.

In der Gemeinde St. Georg herrscht seit Anfang dieses Jahres Ungewissheit über das Schicksal des Kirchengebäudes. Seit Bischof Genn Mitte Januar seine Pläne für die Umstruktuierung des Bistums öffentlich gemacht hat, steht St. Georg auf der Liste der zu schließenden Kirchen.

Wie mehrmals berichtet, hatte die Gemeinde wochenlang dagegen protestiert, Mahnwachen abgehalten, Unterschriften gesammelt und auch einen Förderverein zum Erhalt der Kirche gegründet. Im Februar dann teilte der Bischof den Gemeindemitgliedern mit, St. Georg als "Filialkirche" von St. Augustinus zu erhalten. Zunächst. dju

WAZ 31.07.2006

 

DIE ZEIT

Sag beim Abschied leise Amen

Das Bistum Essen schließt fast hundert Kirchen. Eine Reise durch das Revier der verletzten Seelen

Von Hanns-Bruno Kammertöns

Wenn Not am Mann ist, dann steht sie da wie eine Wand, »damit dat klar is«. Wenn eine Frau wie sie einmal »ja« gesagt hat, dann gilt es für das ganze Leben. Inge Labsch, 1932 am Kurischen Haff geboren, eine von so vielen, die in den sechziger Jahren aus dem Osten ins Ruhrgebiet kamen und blieben. Religion: evangelisch. Eigentlich kein Gedanke, daran etwas zu ändern. Dann verliebte sie sich, er war »erzkatholisch, wie auch seine Eltern«. Also ist sie »übergetreten«, wie sie es nennt. Hat gepaukt, bis sie das katholisch-apostolische Glaubensbekenntnis endlich aufsagen konnte. Dann fuhr sie ins Gelsenkirchener Rathaus, ließ die Sache amtlich machen. Draußen schien an diesem Tag die Sonne. Wirklich gedankt hat es ihr die Familie nicht.

Es dauerte nicht lange, dann war Schluss mit der kirchlichen Gemeinsamkeit am Wochenende. Wenn die Glocken läuteten, blieb der erzkatholische Teil der Familie zu Hause, jeder fand schließlich einen guten Grund. Nur Inge Labsch, sie nahm sich Hut und Mantel; seit sie katholisch ist, hat sie sonntags nie gefehlt.

Die Liebfrauenstraße in Gelsenkirchen, dort wohnt sie im Parterre, ein kleiner Flur, links daneben ihre große Küche mit dem Fernseher auf der Kommode. Draußen vor dem Fenster die Kulisse von Gelsenkirchen – mehr Ruhrgebiet geht nicht. Ein ergrautes Wohnviertel mit einer hohen Dichte von Getränkemärkten, ein paar bunten Litfaßsäulen und diesen Autos, die an ihrem Heck blau-weiße Schalker Vereinsfarben spazieren fahren.

Mittendrin das Gotteshaus von St. Georg, neuromanisch, heller Sandstein, ein knapp 60 Meter hoher Kirchturm mit einem goldenen Ziffernblatt unterhalb der Spitze. St. Georg, eine Landmarke für die ganze Gegend. Die vielspurige Florastraße verläuft nebenan – wer samstags von auswärts kommt und auf die Arena von Schalke will, der weiß: Hinter der Georgskirche geht es dann rechts ab!

Inge Labsch, eine Frau mit weißen Haaren, mit einigem Temperament und einer kernigen Stimme gesegnet, war nie auf Schalke. Sie nahm lieber Kurs auf die Kirche. »Wenn man wat hat«, sagt sie, »dann wird man et dort los.« Die Kommunion ihrer beiden Kinder, die Firmung der beiden, später die Heirat des ältesten Sohnes, die Taufe der Enkelkinder, die Totenmesse für ihren Mann 2002, der an der Parkinsonschen Krankheit litt – »alles hier passiert«.

St. Georg war ja immer da, eine »Schlappenkirche«, wie man im Revier gern sagt. Wenn man spät dran ist, kommt man auch in Hausschuhen schnell noch hin. Weiß Gott, Frau Labsch hatte keinen Anlass, darüber nachzudenken, dass dies einmal anders werden könnte. Sonntag für Sonntag nahm sie den linken Eingang und setzte sich auf einen Platz, am besten einen in den Reihen zehn bis fünfzehn, »näher nach vorn an den Altar will niemand mehr, alle sitzen heute in der Mitte«.

Eine liebe Gewohnheit, die sich auch nicht änderte, als der Küster plötzlich begann, die Heizung herunterzudrehen. Von den Wärmeschleifen, 1974 im Boden verlegt, blieben fortan nur noch jene rund um den Altar in Betrieb. Heute meint Frau Labsch, sie hätte dieses Zeichen besser deuten können. »Alle müssen sich einschränken«, dachte sie damals bloß. Heute weiß sie, dass es um mehr ging als um eine Heizung.

Eine goldene Pfründe ist St. Georg nie gewesen. Heute weniger denn je. Dies konnte man auch an der Entscheidung des Pastors ablesen, den Betrieb der Turmuhr einzustellen. Andererseits wurde dem Wirt der Gaststätte Branco am Dom gestattet, seine Kneipe um einen Biergarten zu erweitern und damit noch weiter auf die Gläubigen vorzurücken. Seitdem stehen seine Tische und Stühle direkt am Eingang der Kirche, dafür zahle der Mann aber auch »reichlich wat an Pacht«, erzählt man sich. Überdies stehe »mit dem Branco« beim Pfarrfest endlich »’ne ordentliche Zapfanlage« zur Verfügung.

Inge Labsch dagegen interessierte sich mehr für den Gottesdienst, bei den Predigten achtet sie auf jedes Wort. Auch an jenem Sonntag Mitte Januar ist dies so, als der Pastor ein »Bischofswort zur neuen Pfarreienstruktur im Bistum Essen« verliest, eine ziemlich unfrohe Botschaft, wie sich zeigt: Demnach werden die insgesamt 249 Pfarrgemeinden des Bistums Essen bis zum Jahr 2008 zu 42 Pfarreien zusammengelegt, 96 von 350 Kirchen will das Bistum aufgeben. Damit will der Bischof rund 15 Millionen Euro pro Jahr einsparen. Die betroffenen Gemeinden, lässt der Bischof verkünden, werden keine Zuweisungen mehr aus den Kirchensteuermitteln erhalten.

Und dann kommt dieser Satz: »Abweichend von der bisherigen Planung soll nun auch die Kirche St. Georg zu den ›weiteren Kirchen‹« zählen. »Weitere Kirchen«, eine Wortschöpfung des Bistums, steht für das Todesurteil. Damit sind jene Gotteshäuser gemeint, die es nun trifft, deren Türen sich schließen, weil ihr »Erhalt nicht mehr verantwortbar ist«. Der Bischof macht Ernst. Jetzt ist Schluss.

In den weniger als fünf Jahrzehnten seines Bestehens hat das 1958 gegründete »Ruhrbistum« mehr als ein Drittel seiner Katholiken verloren, rund 950000 Mitglieder sind ihm geblieben. Auch hinsichtlich der Priester zeigen alle Kurven nach unten. In Essen rechnet man damit, dass sich die Zahl der Pastoren und Kapläne, die jünger sind als 65 Jahre, dramatisch verringern wird. Von derzeit etwa 240 Geistlichen auf vielleicht noch 150 Seelsorger im Jahr 2020.

Düster ist es auch um die Finanzen bestellt. Die Steuereinnahmen sind eingebrochen, Folge von Kirchenaustritten, dem Strukturwandel im Ruhrgebiet, dessen schlechter wirtschaftlicher Lage und den gestiegenen Mieten, die viele Familien seit Mitte der neunziger Jahre wegziehen ließ. Rücklagen gibt es keine, augenblicklich lässt sich der Haushalt des Bistums nur noch über Kredite finanzieren. 2006 liegen die Schulden bei rund 60 Millionen Euro, eine Zahl, die bis 2008 noch auf 70 Millionen steigen könnte. Gesundbeten lassen sich diese Fakten nicht, »man muss sie annehmen«, wie der Bischof sagt.

Zehn Minuten dauert der Vortrag des knapp vier Seiten langen Papiers durch den Pfarrer, nach dem letzten Satz ist es eine Weile still im Kirchenschiff von St. Georg. Kein Rascheln, kein Husten diesmal. Hat man es richtig gehört? Was planen die? »Dann brach Tumult in der Georgskirche los, Menschen begannen zu weinen, sprangen auf, liefen ins Freie«, notierte die Westdeutsche Allgemeine Zeitung am Tag danach.

Das Ganze klingt, als sei keine Katastrophe eingetreten, sondern ein Wunder geschehen. Nicht die Säkularisierung scheint plötzlich mehr das Thema, sondern das Gegenteil. Mit seinem Brief gelingt Ruhrbischof Felix Genn, was über die letzten Jahre so unmöglich schien: Seine Zeilen mobilisieren, bringen plötzlich wieder Schwung in das vielerorts ermattete Gemeindeleben. Die Basis erhebt sich; wenn die Glocken läuten, strömen die Gläubigen nun wieder in Scharen herbei – ein Bild, wie sonst nur an Weihnachten oder zu Ostern gesehen.

Die Menschen eint die Frage: Dürfen die Kirchenoberen ihren Gläubigen einfach das Gotteshaus wegnehmen? Ist denn eine Kirche ein Warenhaus oder ein Kino, das man nach Kassenlage aufmacht und wieder schließt? Was hält das Ruhrgebiet dann noch zusammen?

In Gelsenkirchen steigen Frömmigkeitspegel und Kampfeslust. Nicht mit uns! Schnell ist diese Haltung in St. Georg mehrheitsfähig. Ein Förderverein zur Erhaltung der Kirche ist rasch gegründet, 60 Personen sind nach vier Wochen beisammen, wer mitkämpfen will, bezahlt fünf Euro pro Monat. Unterschriftenlisten mit bald 2500 Namen, tägliche Abendandachten, Mahnwachen im Schein roter Grablaternen – vorneweg Inge Labsch. Über das katholische Hirtenwort ist sie nun, wenn auch nicht wieder zur Protestantin, so doch zur Protestierenden geworden.

Bei den Vollversammlungen treffen sich die Köpfe des Widerstandes dienstagabends bei Branco am Dom. Jemand sagt, er habe »kein Problem mit Gott, nur mit seinem Bodenpersonal«. Niemand lacht.

In der Runde sitzen zwei junge Theologiestudenten, Universität in Bochum, dunkel die Pullover, ein Holzkreuz baumelt auf ihrer Brust. Wenn sie reden, dann reden sie leise, dann mischen sich Enttäuschung und Wut. Habe die katholische Kirche nicht immer die wertvolle Mitarbeit der pastoralen Laien angemahnt, zuletzt beim Papstbesuch in Köln? Wie hohl sei doch das Ganze, »wenn es drauf ankommt, werden wir wieder nicht gefragt. Da ist die Tür zu.«

Eine Erklärung wäre, dass die da oben im Bistum gar nicht wissen, was in einer Gemeinde passiert. Wenn Michael Wagner, Lehramtsstudent und Obermessdiener von St. Georg, auf den kirchlichen Alltag zu sprechen kommt, dann packt ihn die Fassungslosigkeit. Er ist ein junger Mann, der, wenn es nötig ist, auch dazwischengeht, und sei es mitten in der Kirche. Anlass gibt es immer wieder, gerade an den großen Tagen, »wenn Firmlinge kommen oder die Kommunionkinder mit der Familie, mit den Freunden«.

Seltsame Freunde sind es heute. Wieder und wieder hat Wagner bei ihnen klingelnde Handys konfisziert, Picknicks im Chorraum beendet und Raucher trotz ihres Protestes der Kirche verwiesen. Bei der letzten Firmung in Gelsenkirchen fragte ihn tatsächlich jemand: »Ey, sag mal, wie heißt denn der Typ da am Kreuz?«

Wagner macht eine Pause, diese Frage hat er immer noch nicht verkraftet, sie steckt ihm immer noch in den Knochen. »Wenn das alles so verkommen ist«, meint er dann, »dann muss man etwas tun! Wieso werden dann unsere Kirchen geschlossen?«

Dabei ist es so lange noch gar nicht her, jedenfalls wenn man in kirchlichen Zeitspannen denkt, da kannte der missionarische Überschwang an der Ruhr keine Grenzen. Mehr Anfang war nie, als Papst Pius XII. im Jahr 1957 den Sauerländer Franz Hengsbach zum ersten Bischof des neuen Ruhrbistums machte, das damals aus »territorialen Abtretungen« der Bistümer Münster, Paderborn und Köln zusammengefügt wurde.

Gleich bei seiner Antrittsrede am 1. Januar 1958 machte sich der neue Mann, der ein Stück Kohle in seinem Bischofsring trug, die Sprache der Bergleute zu Eigen. »Ich bin jetzt vor Ort gegangen. In Gottes Namen wollen wir die erste Schicht verfahren.«

Rastlos durcheilte Hengsbach sein Revier, ein Mann, der die Kinder segnete und die Kumpel mochte. Weil er in der Zeit des großen Zechensterbens unten an den Fördertürmen stand, erhielt er Grubenlampen ohne Zahl, wurde gar zum »Ehrenbergmann« ernannt. Als Militärbischof der Bundeswehr beförderte ihn die Truppe zum »Ehrenmitglied« der Feldjäger, für einen Seelenhirten eine vielleicht etwas heikle Würde.

In Essen gründete Hengsbach die bischöfliche Hilfsaktion Adveniat, initiierte Anfang der achtziger Jahre Schweigemärsche »zum Schutz des ungeborenen Lebens«, bei denen ihm beinahe 30000 Menschen sittsam folgten. Als »Außenminister« der Deutschen Bischofskonferenz, mittlerweile zum Kardinal ernannt, empfing »Kumpel Franz« in seiner Residenz am Essener Burgplatz Würdenträger aus aller Welt, 1987 gar seinen irdischen Chef, Papst Johannes Paul II. »Fast wie Krupp«, noch heute schwärmen viele Essener gerne von dieser großen Zeit.

Bei aller Umtriebigkeit, mit Hingabe widmete sich Hengsbach seiner eigentlichen Passion: der Vermehrung der Gemeinden, dem Bau von Kirchen. Ein seltsamer Wettstreit, der die Stadt damals erfasste. Boomtown Essen – Bistum Essen. Während der SPD-Oberbürgermeister für die Stadt unermüdlich mehr Schwimmbäder forderte, »Immer ein Bad im Bau!«, träumte Hengsbach von seinen neuen Kirchtürmen.

Der Gedanke an den Strukturwandel in der Region, an die ersten Krisen bei Kohle und Stahl, mochte anderen das Herz schwer machen, Hengsbach war frei davon. Er wollte die Zahl der Gemeindemitglieder verdoppeln. Und keines seiner Schäfchen sollte es zum nächsten Gotteshaus weiter haben als drei Kilometer; länger als 15 Minuten sollte niemand laufen müssen. »Gottvertrauen statt Realismus«, ächzt heute ein hoher Würdenträger des Bistums, der lieber nicht genannt sein will. »Genau jene Zahl von Kirchen, die Hengsbach damals bauen ließ, haben wir jetzt zu viel, die müssen alle weg.«

Genau genommen sei das ganze Fundament der Diozöse recht bizzar, meint Ulrich Engelberg, Chefredakteur von RuhrWort, der Wochenzeitung im Bistum Essen. Zwar ist Engelberg erst seit Oktober 2005 im Amt, seitdem stieg der Verkauf des Blattes um 700 auf jetzt insgesamt rund 30000 Exemplare, seine Einschätzung wiegt dennoch schwer. Der Job bringt es mit sich, dass er bei Bischof Genn, seinem Herausgeber, ein und aus gehen darf. Jeden Dienstag um 8.15 Uhr ist Jour fixe, dabei erscheint der Chef gern leger in einer Strickjacke, »meist zündet er als Erstes eine Kerze an«. Dann erörtern die beiden die Lage.

Beim Geld, meint der Bischof, »da sind sich Brüder Fremde«

Trotz dieser engen Nähe zur Macht ist der Journalist bislang noch nicht dahintergekommen, was es mit den sonderbaren Grenzen des Bistums auf sich hat. Warum behielt Paderborn die Großstadt Dortmund, warum Köln das wohlhabende Fachwerkstädtchen Kettwig am grünen Strand der Ruhr, das schon seit Jahrzehnten zur Stadt Essen gehört? Immerhin, so viel lässt Engelberg durchblicken: »Hätte das Bistum die Steuerzahler aus Kettwig, dann wäre unser Haushalt fast im Lot.« Warum das Bistum Köln mit seinen Kettwigern nicht hilft? »Was das Geld angeht«, meint der Bischof, »da sind sich Brüder Fremde.«

Das Dilemma ist also mit Händen zu greifen, zumal sich das Bistum Essen, wie bereits in einem Leserbrief an das RuhrWort leidenschaftlich gefordert, nicht so einfach selbst wieder auflösen kann. »Dies«, erläutert Engelhard, »liegt allein in der Entscheidung des Vatikans.«

Was also blieb? McKinsey!

Ein Novum. Internationale Unternehmensberater, die mit Chirurgenblick durch kirchliche Bücher blättern, Typen, die ohne Gebet und weitere Umschweife gern gleich zur Sache kommen. Wenigstens, so erinnert man sich im Bistum noch immer dankbar, schickten McKinsey & Company Mitte der neunziger Jahre drei Männer, die »das Kreuzzeichen sicher beherrschten«. Sie gaben an, »selber in der Kirche« zu sein, und vielleicht waren sie es ja wirklich.

Erhaltung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit zur Absicherung des pastoralen und sozialen Dienstes des Bistums Essen lautet der Titel des vertraulichen Berichts, den die Berater schließlich im Oktober 1997 präsentierten. Eine Zäsur für die Kirche als Institution. So hatte noch niemand mit ihr gesprochen. Sie, die älteste Gemeinschaft von allen, war nun ein Konzern geworden.

McKinsey rät, sich um die »Deckungslücken« zu kümmern

Mit keinem Wort, so erinnern sich Leser an die Lektüre des telefonbuchdicken Schmökers enttäuscht, würdigt der Bericht die Seelsorge, den ewigen Dienst am Menschen, an all den Mühseligen und Beladenen. Stattdessen ziehen sich teufliche Begriffe wie »Deckungslücken«, »strukturelle Defizite« und »Reduzierung des Personalbestandes« durch die Seiten.

Angeraten wurden »Kennziffernsysteme« und »Controllingansiedlungen« – die Berater meinten es ganz ernst, auch den worst case sprachen sie offen an: die Gefährdung des Ruhrbistums in seinem Bestand. Und das Bistum akzeptierte die neuen Spielregeln. Man nahm die Passiva endlich in den Blick.

Schnell fanden sich bei den Personalkosten, sie machten ungesunde 85 Prozent des Bistumsetats aus, Einsparungsmöglichkeiten von 60 Millionen Mark. »Die Altersstruktur der Mitarbeiter«, erinnert sich Finanzreferent Ludger Krösmann, habe die Gelegenheit geboten, »elegant« abzubauen. »Bei manchen war die Pensionsgrenze ja längst überschritten.«

Doch dann geriet die Sanierung noch einmal ins Stocken. Bischof Hubert Luthe, der nach Hengsbachs Tod 1991 dessen Nachfolger geworden war, trat im Mai 2002 im Alter von 75 Jahren von seinem Amt zurück. Bei einem Wechsel auf dem Bischofsstuhl ist eine so genannte Sedis vakanz zu respektieren. »Da passierte monatelang gar nichts«, sagt Krösmann.

Dann kommt der Neue in Essen an. Im Juli 2003 wird Felix Genn in sein Amt eingeführt. Er braucht sechs Monate, dann hat er das ganze Ausmaß des finanziellen Abgrunds erfasst. Er formuliert, mit Unterstützung der Profis einer Unternehmensberatungsgesellschaft in Münster, sein »Zukunftskonzept«.

Schon dieses Wort aus dem Munde eines Bischofs! Seit es die Runde macht, wechselt sein Fahrer, »Herr Mallmann«, immer mal wieder zur Vorsicht das Nummernschild an dem metallicfarbenen Dienst-Audi, einem A6. Zurzeit hat er ein Kennzeichen aus Dortmund angeschraubt. »Man weiß nie«, meint Herr Mallmann.

An diesem Abend steuert er den Wagen in die Gemeinde St. Josef, Bottrop, nördliches Ruhrgebiet. Zur Sicherheit hat er das Navigationsgerät eingeschaltet, denn irgendwie sieht es auch in Bottrop nicht viel anders aus als in Gelsenkirchen.

»Nicht wahr, Herr Mallmann, so allmählich erfahren wir uns das Ruhrgebiet«, meint der Bischof, als der Audi auf die Schnellstraße nach Bottrop biegt. Ein kurzes Nicken, Felix Genn schaut wieder hinaus in die Nacht.

Zu seinem schwarzen Anzug besitzt der Bischof einen schwarzen Hut mit breiter Krempe. Wenn er ihn trägt, er damit durch Essens Straßen schlendert, dann lässt der Hut ihn ganz gelassen wirken, fast beschwingt. Jetzt liegt er neben ihm, nahe der linken Hand, die nach einem roten Buch gegriffen hat, dem Handbuch des Bistums Essen. Dürre Fakten, kleine Schrift. Gelegentlich knipst Genn die Leselampe an, »Herrn Mallmann stört das nicht«. Dann blättert er durch die Kapitel mit den Kurzbeschreibungen seiner Pfarreien, jede steht für tausend Wünsche.

Er kommt aus Trier, »einem Bauern- und Winzer-Bistum«. Gefreut hat er sich auf das neue Amt in Essen, »diese städtische Region«. Aber nach wenigen Wochen entfuhr ihm ein erstes »O Gott, o Gott«. Das passiert ihm fortan immer wieder. Denn alle Zahlen, die man ihm hinlegt, sind irgendwie schlecht. Diese ganzen Diagramme und Schaubilder, die für »eine dramatische, geistige Veränderung in der Gesellschaft« stehen. Genn spricht von »einer Wandlung, deren Umfang noch kaum jemand richtig realisiert hat«. Eigentlich zum Weglaufen, aber Genn muss nach Bottrop.

Ihm fehle »Herzenswärme«, urteilt der pensionierte Pastor einer Essener Innenstadtkirche über den Bischof. Er sei zu sehr »ein Kopfmensch«, da sei »Kumpel Franz« doch ganz anders gewesen. Zu viel Vernunft!, was im Ruhrgebiet noch immer als ein schwerer Vorwurf gilt. Genn ficht das nicht an. Sein Amt sei in diesen Zeiten »verwoben in einer Gesellschaft der Ansprüche und der Besitzstandwahrung«. Die Bürger seien heute »nicht mehr automatisch Christen«, was, da will er nichts beschönigen, sicher auch mit »nachlassender Strahlkraft« der Kirche zu tun habe. »Da gibt es viel Patina.« Sein Blick streift die halb leere Wasserflasche, die vor ihm in der Sitztasche klemmt. Er reckt den Kopf, ist die Kirche schon zu sehen? Dann sagt Herr Mallmann: »Wir sind da.« Im Schein der Leselampe sieht der Bischof plötzlich ziemlich müde aus. Wenige Minuten später steht er im Gemeindehaus von St. Joseph zu Bottrop.

Graue Gardinen, gebastelter Osterschmuck, ein paar Primeln und 20 Augenpaare, die konzentriert das Muster der Tischdecke studieren. Beifall für den Besucher? Stattdessen Fragen ohne Zahl. Was wird aus dem Kindergarten, was aus unserem Jugendheim, was aus den Pfarrbüros? Ist die Altenbetreuung gesichert? Was ist mit dem Fahrdienst, will jemand wissen, »wie komme ich sonst von der Kirche nach Hause«?

All das hört sich Genn geduldig an. Er sichert zu, »Anregungen und Kritik« mit nach Essen zu nehmen. Er bittet die lieben Brüder und Schwestern, doch nicht sofort »von der Klage zur Anklage« zu kommen. Dann hat er genug gehört. »Eine Sozialgestalt von Kirche geht nicht zu Ende«, ruft er kraftvoll durch den Saal, »sie ist zu Ende!« Ein etwas rätselhafter Satz.

Zwei Stunden und drei Wasserflaschen später sitzt Genn wieder neben seinem Hut im Auto. Er erinnert sich an all jene, »die mir am Anfang Angst machen wollten, als sie von meinen Plänen hörten«. Lieber Himmel, Herr Bischof, »wenn wir jetzt Kirchen schließen, bleiben uns doch noch mehr Leute weg«. Er mag es nicht mehr hören. »Ein Gottesdienst im Pfarrsaal? Warum eigentlich nicht!« So ist die religiöse Lage, das Ende der Komfortzone ist erreicht.

Kirchen könnten zu Kletterzentren werden oder auch zu Ärztehäusern

Also wird sondiert. »Kirchen sind Zelte«, nicht weniger, aber auch nicht mehr. Was sind diese Zelte wert? Heinz-Peter Heidrich hat man gefragt, den Vorstandssprecher der Bank im Bistum Essen. Ein Diplomvolkswirt und Katholik, sein Haus gewährt dem Bischof die Kredite. »Kirchen stellen keine Sicherheiten dar«, hat Heidrich kühl geantwortet, sie seien »in dem Sinne« nicht zu verwerten. Wenn man überhaupt etwas sagen könne, dann dies: »Der Wert einer Kirche bemisst sich nach dem Grundstückswert minus Abrisskosten.«

Seitdem prüft »das Gebäudemanagement« des Bistums, seinerzeit von McKinseys Leuten dringend eingefordert, nun anderweitige Verwendungsformen einer Kirche. Herbert Fendrich, Kulturbeauftragter des Bistums, möchte die sakralen Räume am liebsten für »kirchennahe Einrichtungen« nutzen. Fendrich denkt an Altenheime, Kinderheime oder an eine Heimstatt für die Caritas. Wenn das nicht geht, kämen auch Kletterzentren in Betracht, Restaurants oder notfalls auch ein Ärztehaus.

Hat die evangelische Kirche nicht vorgemacht, was alles denkbar ist, sind die Bänke erst mal rausgeschleppt? Im Sauerland machte in einem ehemaligen Gotteshaus die Tanzkneipe Don Camillo auf, die Johanneskirche in Weil am Rhein beherbergt nun die Stadtbibliothek, in die 200 Jahre alte Dorfkirche im brandenburgischen Milow zog die örtliche Sparkasse ein, und nebenan in den Niederlanden klingen in den Chören bereits die Supermarktkassen.

»Ich sag mal so«, sagt der Küster, »Hauptsache, kein Puff«

Ein Tabu gibt es, immerhin, an dem auch das Bistum Essen nicht rühren will: Keine Bar! Keine Moschee! Insoweit gelten die »Arbeitshilfen 175«, von der Deutschen Bischofskonferenz an Allerheiligen 2003 offenbar in einem Zustand tiefer Sentimentalität verfasst. »Eine Kirche«, stellen die Bischöfe da fest, »ist ja nicht irgendein Gebäude.«

Sie raten »bei der Profanisierung« zu einem Ritus »mit aller Feierlichkeit«. Am besten ist die Kirche beim Abschied »festlich geschmückt, alle Kerzen (vor allem auch die Kerzen bei den Apostelkreuzen) sind entzündet.« Was jedoch nicht infrage kommt, ist »die kultische Nutzung durch nichtchristliche Religionsgemeinschaften (zum Beispiel Islam, Buddhismus, Sekten)«, diese »ist – wegen der Symbolwirkung einer solchen Maßnahme – nicht möglich«.

Uneingeschränkt gilt dies auch für St. Marien in Bochum, einen neugotischen Bau, 1868 bis 1872 errichtet. Bis auf ihren Turm wurde sie im Krieg zerstört, später wiederhergestellt, ein beeindruckendes Zeugnis der Bochumer Geschichte. Trotzdem fehlt sie in der Denkmalliste der Stadt. Sie ist das erste Gotteshaus im Bistum, von dem man sich trennte. Rußgeschwärzt, mittlerweile von einem Bauzaun und leeren Bierflaschen umsäumt. 2003 wurden zum letzten Mal die Kerzen angezündet. Dann kam der Spediteur Schenker mit seinen Lastwagen.

Die Messgewänder, die Orgelpfeifen, die 54 Bänke, alles wurde aufgeladen und nach Donezk in der Ukraine geschafft, in Bochums Partnerstadt. Jetzt ist die Kirche ein ganz profaner Ort, an dem der Kalk von den Wänden rieselt. Nicht zum Ansehen.

Also lässt Peter Knobel, der ehemalige Küster, keinen mehr rein, »auch die vom Bistum nicht«. Er hat den Schlüssel, und den gibt er nicht raus. Knobel schützt die Totenruhe seiner Kirche. Was jetzt werden soll? »Hauptsache«, meint Knobel bei einem Pils im Kolpinghaus, »ich sag mal so, Hauptsache, kein Puff.«

Dann erinnert er sich an den Besuch des Bischofs, der vor ein paar Wochen in der Gegend war. »Die Marienkirche liegt mir schwer im Magen«, habe Felix Genn gesagt. Das hat Knobel gut gefallen. »Die Trauer auch bei diesem Mann.« Zwei Tage später, wie jeden Dienstag um 17.15 Uhr, hat er wieder auf den Knopf gedrückt, »und hab sie läuten lassen«. Einfach so. Nicht alle Glocken im Turm, nur drei. »Alle vier mach ich nur an den hohen Feiertagen an.«

Unter dem Eindruck einer solchen Treue ist im Essener Bistum selbst ein Mann wie Generalvikar Hans-Werner Thönnes ins Grübeln gekommen. Stimmt das Tempo der Veränderung? Was ist mit der Rücksicht auf die Seelen? »Vielleicht war es falsch, dass wir beim Geld anfingen«, räsoniert der Vikar. »Wir hätten stärker die pastoralen Fragen berücksichtigen müssen.« Dann aber ist er wieder schnell ganz bei sich.

Hans-Werner Thönnes, 1953 in Essen geboren, kam zusammen mit dem Bischof ins Amt. »Wir verstehen uns blind«, beschreibt er das Verhältnis zum Chef. Auch ohne große Worte sind die Rollen der beiden fest umrissen. Genn steht für die guten Nachrichten, der Vikar mehr für den Rest. Also füllt Thönnes seinen Part nach Kräften aus.

Im bischöflichen Haus wirkt er wie jemand, der sich in der Tür geirrt hat. Von Kardinal Hengsbach zum Priester geweiht, ist er inzwischen zu einem Manager gereift, der ohne großen Anlauf von dem »Produkt Kirche« spricht. Einer, der Kosten trimmt und kaum hinhört, wenn jemand in Bottrop einen Fahrdienst für den Kirchgang fordert. Thönnes, randlose Brille, ein Mann mit Kurzhaarschnitt, der die Zahlen im Kopf hat, der am Ende eines langen Sanierungstages, statt im Herrgottswinkel Zwiesprache mit dem Schöpfer zu halten, freudig joggend durch den Stadtwald keucht.

Vor seiner Verwendung in Essen war Thönnes als Regens am Priesterseminar in Bochum für die Ausbildung zuständig. Die Idee, mit Hilfe einer Werbeagentur dem Priestermangel zu begegnen, kam von ihm: »Wir brauchen keine frommen Jungs. Wir brauchen Priester.« Oder: »Wer Licht in die Welt bringen will, wird Elektriker oder Priester.« So lauteten die Zeilen der Kreativen auf frohen Postkarten mit lächelnden Jünglingen beim Ballspielen.

Als Folge der Kampagne meldete sich zwar der Verband der Elektriker in Bochum, der begeistert war und sich, »für unsere Mitglieder«, ein paar von diesen netten Karten wünschte. Weitere Nachfragen blieben aus. Zurzeit werden in Bochum 22 Priesterkandidaten gezählt, 60 hätten im Hause bequem Platz. Der Generalvikar findet die werbliche Anstrengung trotzdem richtig, es sei »ein Signal« gewesen.

Nach Lage der Dinge sei die Kirche – »Der größte Bremser ist das System« – auf einen neuen Typus von Priester angewiesen. Auf Seelsorger, die verstanden haben, »dass wir nicht mehr die Sicherheit bieten können, die sich viele wünschen«. Für einen Augenblick führt der Generalvikar die Hände zusammen wie zu einem Gebet. »Ja«, doziert er dann, »Seelsorge wird ein Stück Abenteuer, sie ist nichts mehr für die frommen Jungs.«

So drückt er aufs Tempo, ganz so, als sei die Kirche mittlerweile auf dem Weg an die Börse. Eine Synode vor Beginn der Reformen, gar etwas mehr Demokratie? »Nein, diese Zeit haben wir nicht.« Was er von seinen Katholiken erwartet, ist »ein schnellerer Blick nach vorn«.

Also führen seine Mitarbeiter jeden Tag Buch über die Leistung des Essener Reformmotors. Sie »dokumentieren jeden Schritt«, auch zur Anschauung für all die Prokuristen in anderen deutschen Bistümern, die den ganzen Weg noch vor sich haben. Genug Stoff wäre da für »eine Anleitung, wie man es macht«. Vielleicht gebe er zu seinem Thema tatsächlich mal was heraus, in ein paar Jahren, dann, wenn es wieder ruhig geworden ist in Essen. »Ein Büchlein« allenfalls, mehr soll es nicht sein.

Die Katholiken im Ruhrbistum führen in diesen Tagen nicht nur wegen der österlichen Fastenzeit ein entsagungsreiches Leben. Erbauung und Trost? Immerhin, es bleibt ihnen die Domschatzkammer, ein ewiger Ort der Ruhe im Schatten des Essener Münsters mitten in der City.

Direkt nebenan, auf der Kettwiger Straße, wurde vor ein paar Tagen in rasender Fahrt ein Nissan Pick-up in ein Juweliergeschäft gesteuert. Jetzt sucht die Polizei nach den Tätern, den Uhren und dem Auto. Von solcher Hektik bekommt man in der Schatzkammer nichts mit.

Die Stiegen führen hinauf und wieder hinunter. Die einzigartigen Kunstschätze der Essener Äbtissinnen, die kleine Krone Kaiser Ottos III., der als Kind schon zum deutschen König wurde, die Armreliquiare und die Pariser Gewandspangen – mit Perlen und Edelsteinen besetzt – funkeln ein bisschen verloren im Raum. Das Kapitelkreuz aus dem 14. Jahrhundert, »Silber vergoldet«, unbeachtet und erhaben steht es in der Ecke, nicht weit von der Vitrine mit dem Bischofsring, aus »Gold und Presskohle« von »Kumpel Franz«.

Paderborn, eine Schatzkammer ganz anderer Art, gut 150 Kilometer von Essen entfernt: Paderwall heißt die Straße, an der er wohnt. Dritter Stock, Eugen Drewermann bittet hinein in seine »Bücherhöhle«, kurz neigt er den Kopf, der Händedruck ist sanft, an die zwanzig Therapiegespräche macht er hier noch immer jede Woche.

Die Bischöfe gegen Drewermann, Drewermann gegen die Bischöfe – viele Katholiken haben den Konflikt gebannt verfolgt, weil darin Zweifel zur Sprache kamen, die sie selbst umtrieben. Er trägt seine Strickjacke, Sandalen mit derben Socken. Noch immer hat er kein Telefon, keinen Kühlschrank und ein Auto auch nicht. Ablenkung hat er sich niemals gestattet. Mit langsamem Schritt geht Drewermann die Regale entlang, in einer Bücherlücke brennt eine rote Lampe aus Salzkristall. »Die finde ich schön«, es bleibt an diesem Nachmittag bis auf Weiteres der einzige heitere Satz.

Seit vielen Jahrzehnten hat er als Theologe auf die Fehlentwicklungen in der Kirche hingewiesen, auf das gestörte Verhältnis zwischen den Gläubigen und denen, die man bei Branco in Gelsenkirchen als »das Bodenpersonal Gottes« bezeichnet. Kleriker. Psychogramm eines Ideals heißt sein heiß diskutiertes Buch aus dem Jahre 1989. Viele Priester empfanden es als »Netzbeschmutzung«, der Erzbischof von Paderborn entzog ihm die Lehrerlaubnis und erteilte das Predigtverbot. »Ich wurde für verrückt erklärt.«

Doch Drewermann schreibt weiter. 15000 Anhänger lesen noch immer jedes neue Werk, »mein Durchlauf«, wie es der Autor nennt. Als Gast in Talkshows sagt er seine Meinung, in seinem Wohnzimmer, wo sich auch das Bett befindet, stapeln sich die Kassetten dieser Auftritte zu schwankenden Türmen.

Schon vor 40 Jahren habe er davor gewarnt, neue Kirchen zu bauen, übrigens auch der »albtraumartigen Heizkosten« wegen. »Was wir brauchen, sind Mehrzweckhallen, Räume für Theater, für Begegnungen.« Wie er es in Erinnerung hat, »fingen diese Austritte aus der Kirche mit der 68er Generation an. Schon damals drohte der Status der Volkskirche, ihre Betreuung für jedes Dorf, auseinander zu brechen.« Einen Moment hält Drewermann inne, es gibt so viel, was sich zur Not der Kirche und der Menschen sagen ließe. Vieles ist kompliziert, die einfachen Worte möchte er finden. »Wenn ein Haus brennt«, meint er dann, »dann muss die Feuerwehr kommen, dann hilft keine Gebäudeordnung, die versichert, dass es keine Brände geben kann.«

Kierkegaard, Erich Fromm, Wolfgang Borchert, die Bibel – gedankliche Stützen für seine Thesen findet er fast überall. Ganze Passagen aus dem Evangelium, aus Romanen, aus der Lyrik, aus den eigenen Büchern zitiert Drewermann flüssig aus dem Kopf. Schräg hinter ihm, an der Wand des Zimmers, hängt ein metergroßer Kunstdruck, ein Schlachtengemälde. Otto Dix. Furchterregend, eine Apokalypse, ein Weltuntergang. Flandern 14 heißt das Werk, auch das hat er mal interpretiert.

Was macht die Kirche richtig? Die Frage überrascht ihn. »Eigentlich«, antwortet Drewermann lächelnd, »hätte sie so viele schöne Bilder zu vermitteln.«

Sind die Helden eines jahrzehntelangen Kampfes nun müde geworden? Die Bischöfe rufen McKinsey, und der ewige Rebell ist vor wenigen Monaten, an seinem 65. Geburtstag, aus der Kirche ausgetreten. Eher lakonisch als kämpferisch wiederholt er noch einmal seine alte Diagnose: »Die Hauptmacht der Kirche war ihre Kontrolle über die Schuldgefühle, dies gelingt nicht mehr.« Und wenn es nicht nur die Schuldgefühle sind?

Am nächsten Tag berichten die Zeitungen, dass die Diozöse München und Freising für den Besuch des Heiligen Vaters im Herbst fünf Millionen Euro bereitgestellt hat. Bereits nach einem Tag seien für einen Auftritt des Papstes in München 10000 Bestellungen für Platzkarten eingegangen. Die neue Strahlkraft ist nicht zu übersehen. Ist es das, was am Ende der Reformen steht? Bündelung der Kräfte für ein Woodstock der Gläubigen? Kirche als Event?

Allzu schnelle Schlüsse verbieten sich, wie es aussieht. Aus leeren oder gar geschlossenen Kirchen folgt nicht, dass die christlichen Gefühle erloschen wären. Sie lodern hell auf beim Katholikentag, bei den Taizé-Treffen oder wenn der Papst die Jugend nach Kerpen ruft – und genauso sehr, wenn sein Bistum Essen den Gläubigen fast hundert Kirchen vor der Nase zuschlägt, auf immer. Dann erwacht das schlafende religiöse Gefühl. Dann schießt es für einen Moment für ein Ziel mit der Kirche in eins. Dann ist einmal nicht mehr Alltag, Gewohnheit oder Achselzucken.

In Nordrhein-Westfalen ist der deutsche Papst schon gewesen. Einhundert Millionen Euro hat der Weltjugendtag gekostet, ausgerichtet an ganz profaner Stelle, auf einem Braunkohlenfeld bei Kerpen. Es wurde aufgeschüttet, abgetragen und planiert, dann endlich stand der Altar.

Hunderttausende verfolgten den Gottesdienst im Freien, danach fuhren sie nach Hause zurück. Nach Essen, Bochum oder anderswo. Im grünen Pfarrbrief von St. Georg in Gelsenkirchen findet das Ereignis später noch einmal auf Seite 14 links unten Erwähnung. Niemand der Verantwortlichen im Bistum Essen, der von sich aus auf jenes Ereignis im Herbst zu sprechen käme.

Unterdessen hat der Bischof einen Brief nach Gelsenkirchen geschrieben. Er will die Kirche von St. Georg einstweilen weiter mit seinen Steuermitteln unterstützen. Bei Branco sind sie froh. »Ein Sieg.« Nach 29 Tagen kann die Mahnwache nun eingestellt werden.

Inge Labsch beugt sich dem Reporter entgegen. Sie habe vor kurzem hier in ihrer Küche einen Film gesehen, Gottes verlassene Häuser oder so ähnlich. Jemand habe darin erzählt, dass man in seiner ehemaligen Kirche nun Teakholzmöbel verkaufe. Es sei eigenartig, aber immer noch machten die Kunden ein Kreuzzeichen, wenn die das Geschäft betreten.

Zu Ende geguckt hat sie die Sendung nicht. Frau Labsch musste weg. Eine Andacht in der Kirche.


DIE ZEIT 12.04.2006 Nr.16

Löcher in den Kirchentüren stopfen

Gemeinde und Förderverein wollen St. Georg an der Florastraße erhalten

Der neu gegründete Förderverein zum Erhalt der Kirche St. Georg an der Florastraße will alles daransetzen, das Ziel auch zu erreichen. Darauf haben sich am Dienstagabend rund 100 Gemeindemitglieder auf einer Pfarrversammlung verständigt.

Unter anderem will man versuchen, die laufenden Kosten zu reduzieren und hierzu zum Beispiel luftdurchlässige Spalten an den Türen abzudichten oder die Heizwärme anders zu nutzen. Kirchenvorstands-Vorsitzender Hermann Stenns trat in der Versammlung Gerüchten entgegen, nach denen die Betriebs- und Instandhaltungskosten für St. Georg "immens Hoch" sein sollen.

Wie mehrmals berichtet, wollen die Gemeindemitglieder die Kirche auf jeden Fall als Gottesdienstraum erhalten wissen. Dafür haben sie seit Bekanntwerden der bischöflichen Pläne, die Kirche zu schließen, knapp 2400 Unterschriften gesammelt und diese dem Bischof zugeschickt. 29 Tage lang wurden Mahnwachen abgehalten.

Donnerstag 23. Februar 2006 | Quelle: WAZ dju

 

Vom Bischof gereichte Hand wird angenommen

Mit einer persönlichen Entschuldigung und dem neuen Angebot, St. Georg vorerst als Filialkirche zu erhalten, hatte Bischof Felix Genn den Gläubigen in Gelsenkirchen in der vergangenen Woche die Hand gereicht (BZ vom 16. Februar). Auf einer Gemeindeversammlung am Dienstagabend nahmen die Mitglieder diese Einladung zur neuen Zusammenarbeit an.

von Tobias Ertmer

"Ich begrüße Sie heute deutlich optimistischer als noch vor fünf Wochen", sagte der ehemalige Pfarrgemeinderatsvorsitzende Reinhard Glenz im Gemeindesaal des Liebfrauenstifts. Den Brief des Bischofs wertete Glenz als Erfolg " der ohne den umfassenden Protest sowie durch die Berichterstattung in den Medien nicht möglich gewesen wäre. "Es ist ein Erfolg aller Gemeindemitglieder", so Glenz vor mehr als 100 Gläubigen. In den vergangenen fünf Wochen sei die Gemeinde enger zusammen gewachsen. Die Mahnwache sowie die Sammlung der Unterschriften (bisher 2349) wurden mittlerweile aufgegeben " als Zeichen des Entgegenkommens.

Der Brief des Bischofs, in dem sich Dr. Felix Genn für die fehlende Beteiligung der Gemeinde an den Voten entschuldigt und gleichzeitig neue Optionen anbietet, wurde unterschiedlich aufgenommen. Das wurde in der Diskussion nach Verlesen des bischöflichen Schreibens klar: "Wer sagt uns denn, dass die Schließung nicht nur aufgeschoben wird", lautete eine Frage aus der Versammlung. Bei vielen Katholiken herrscht Verunsicherung und Skepsis " so wurden kaum konkrete Vorschläge zur Weiternutzung der Kirche genannt.

Kirche als Raum für Gottesdienste

Allerdings waren sich die Georgianer in einer Sache ganz einig: Die Kirche soll als Gottesdienstraum erhalten bleiben und weiterhin ein sichtbares Zeichen für den christlichen Glauben in Gelsenkirchen sein. Diese Forderung nahm die Versammlung auch in den Antwortbrief an Bischof Genn auf: "Wir wollen dem Bischof in erster Linie danken und in einen neuen Dialog mit dem Bistum Essen eintreten", so Sebastian Glenz. Diskutiert wurde auch die weitere Finanzierung der Kirche: Dabei betonte der Vorsitzende des Kirchenvorstands, Hermann Stenns, dass für die Filialkirche vorerst weiterhin das Bistum verantwortlich sei " das gilt wohl vorerst noch bis Ende 2007. Dass die Gemeinde auch an die Zeit danach denkt, wird durch Gründung eines Fördervereins deutlich. Er hat sich zum Ziel gesetzt, einen Beitrag zum Erhalt von St. Georg zu leisten. Auch die Reduzierung der laufenden Kosten für den Betrieb der Kirche durch bessere Isolierung und Wärmenutzung ist bereits in Planung.


Donnerstag, 23. Februar 2006 | Quelle: Buersche Zeitung (Gelsenkirchen)

 

St. Georg wird vorerst Filialkirche



Bischof entscheidet über die weitere Verwendung. Teilerfolg für "Mahnwächter"

Die "Mahnwächter" von St.Georg verbuchen einen ersten Teilerfolg ihrer Protestaktionen für sich: Ihre Kirche bleibt als "Filialkirche" der Propsteigemeinde St. Augustinus erhalten. Zunächst.

Das teilte Ruhrbischof Felix Genn den Befürwortern der Kirche mit Schreiben vom 13. Februar mit. Weihbischof Franz Vorrath bestätigte diese Aussage des Bischofs am Dienstagabend gegenüber Mitgliedern der Mahnwache, die sich vor dem Augustinushaus postiert hatten.

Der Weihbischof hatte sich dort mit Vertretern der künftigen Pfarrei St. Augustinus getroffen. "Zur Bestandsaufnahme", wie es Propst Manfred Paas gestern formulierte. Pfarrgemeinderäte und Kirchenvorstände der "neuen" Augustinusgemeinde nahmen an dem "Orientierungsgespräch" teil.

Die Befürworter für den Erhalt der St. Georgs-Kirche sehen in der Entscheidung des Bischofs zwar einen Teilerfolg. Gleichwohl sind sie sich nach den Worten von Sebastian Glenz von Pfarrgemeinderat/Kirchenvorstand "aber bewusst, dass dies noch keine Entwarnung in Sachen Kirchenschließung" bedeutet.

Die vom Bischof "gereichte Hand" wollen sie nach eigenem Bekunden "gern annehmen" und sich gleichzeitig weiter dafür einsetzen, dass ihre Kirche an der Florastraße als Gottesdienstort erhalten bleibt. Und dafür stehen die Zeichen möglicherweise gar nicht so schlecht. Propst Paas nahm in diesem Zusammenhang einen Gedanken des Bischofs auf, nach dem von der Schließung betroffene Kirchen in der Nähe von Seniorenheimen in Zukunft als "Gottesdienstorte" genutzt werden können.

Für St. Georg könnte diese Idee wirksam werden, zumal im nahegelegenen Alten- und Pflegeheim Liebfrauenstift "bauliche Veränderungen" wie Paas sie nannte, anstehen. Die Kapelle im Hause sei zu klein geworden, außerdem würden weitere Zimmer benötigt. Im Altenheim könnte, so Paas, die Kapelle aufgelöst und in den Wohn- oder Wirtschaftsbereich integriert werden. Paas schlägt vor, einen Teil der St. Georgs-Kirche als Gottesdienstort für das Heim zu gestalten, einen anderen für kulturelle Veranstaltungen.

15.02.2006 Von Doris Justen-Ehmann WAZ


Bischof entschuldigt sich "in aller Form"


"Wer nicht kämpft, hat schon verloren" – diesen Wahlspruch haben sich die Gemeindemitglieder von St. Georg auf ihre Fahnen geschrieben, als sie in einem Brief an den Bischof, in Mahnwachen und Andachten gegen die Schließung der Kirche protestierten. Offenbar hat sich der Kampf gelohnt, die Gemeinde hat einen Teilsieg davon getragen. In einer Antwort auf das Protestschreiben entschuldigt sich Bischof Genn bei der Gemeinde und bietet neue Perspektiven...

von Tobias Ertmer

In einer Gemeindeversammlung am 17. Januar einigten sich mehr als 200 Gläubige aus St. Georg auf einen Protestbrief an Bischof Dr. Felix Genn, der am Samstag zuvor seine Entscheidungen zur Neustrukturierung der Pfarreien im Bistum Essen bekannt gegeben hatte (BZ berichtete). Vier Wochen danach, am Montag dieser Woche, erhielten Reinhard und Sebastian Glenz, die den Protest mit ins Leben gerufen hatten, eine Antwort: In dem Schreiben geht der Ruhrbischof auf die Enttäuschung der Gemeinde ein, entgegen der ersten Planungen nun doch zu den "weiteren Kirchen" zu gehören, die bis Ende 2008 geschlossen werden sollen. "Sie bemängeln völlig zu Recht, dass Sie im zurückliegenden Beratungsverfahren keine Möglichkeit hatten, ein Votum zur veränderten Planung abzugeben", schreibt Dr. Felix Genn. Es sei nicht die Absicht gewesen, die Gemeinde zu täuschen oder zu hintergehen. Allerdings habe man versäumt, mit Pfarrer und Gemeinde rechtzeitig über die neuen Planungen zu reden. "Für diesen Fehler möchte ich mich in aller Form entschuldigen", so Genn. Und der Bischof kommt der Gemeinde weiter entgegen: "Ich habe entschieden, St. Georg so lange als Filialkirche der Gemeinde St. Augustinus zuzuweisen, bis ein entsprechender Nutzungszweck gefunden ist."

Damit sei die Erwartung verbunden, dass alle Beteiligten so schnell wie möglich über andere Nutzungsmöglichkeiten nachdenken müssten. Ein erster Schritt in diese Richtung wurde am Dienstagabend beim Besuch von Weihbischof Franz Vorrath in St. Augustinus gemacht. Propst Manfred Paas äußerte dabei auch die Hoffnung, eventuell die Georgskirche für den benachbarten Liebfrauenstift nutzen zu können. Weitere Gespräche sollen folgen.

15. Februar 2006 | Quelle: Buersche Zeitung

 

Herr Genn, erbame Dich


Über 96 Kirchen hat der Ruhrbischof das Todesurteil gesprochen. In den meisten hat die Trauerarbeit begonnen, wenige kämpfen noch: wie St. Georg, deren Patron war ja Soldat

von Annika Fischer

Gelsenkirchen. Einen Augenblick nur war es fassungslos still im Kirchenschiff, dann brach Tumult los. Menschen begannen zu weinen, sprangen auf, liefen ins Freie. Es war der 14. Januar, der Pfarrer hatte das Hirtenwort von Bischof Felix Genn verlesen, hatte St. Augustinus genannt, St. Barbara, St. Josef, all' die Innenstadt-Gemeinden Gelsenkirchens, in dicken Lettern standen sie in dem Brief - und dann kam der Nachsatz, mit dem keiner gerechnet hatte: "Abweichend von der bisherigen Planung soll nun auch die Kirche St. Georg (...) zu den 'weiteren Kirchen' zählen."

"Weitere Kirchen" sind die 96 im Bistum, "deren Erhalt nicht mehr verantwortbar ist." Und "St. Georg" war nicht mal fettgedruckt.

Dafür steht der Name seither deutlich sichtbar im Stadtbild. "St. Georg muss bleiben", mahnen Transparente rund um die Kirche; "Lasst St. Georg leben", klebten Autofahrer an ihre Rückscheiben; "St. Georg muss erhalten bleiben", schrieben Gemeindeglieder in Faltblättchen und "Protest gegen die Schließung von St. Georg" auf Hemden, in denen sie täglich Mahnwache halten. "Katholiken werden zu Protestanten", titelte, sprachlich etwas schräg, ein Lokalblatt.

Genn in Essen könnte das noch übersehen, Gelsenkirchen nicht. Denn das Gotteshaus, so monströs, so monumental, steht mitten in der Stadt, neben dem Musiktheater, dort, wo jeder abbiegen muss, der quer durch den Ort will. Um St. Georg zu kennen, muss niemand gläubig sein und nicht einmal aus Gelsenkirchen. Der Volksmund nennt die Kirche "Dom", sie ist ein Leuchtturm dieser Stadt, die einst um sie herum erst wuchs, und derzeit leuchtet sie wirklich: Kerzen flackern an ihren Grundmauern und zu Füßen des Heiligen Georg, "vielleicht hilft's ja was", sagt Reinhard Glenz vom Kirchenvorstand. Aber es sind Grablichte, die da brennen.

Schon jetzt gibt es Leute, die fragen, warum soll ich noch kommen. Was soll ich mich engagieren, ihr macht ja doch zu. "Und wenn die Kirche erst zu ist", glaubt Sebastian Glenz, "dann fällt auch die Gemeinde auseinander." Dann stirbt diese Gemeinde, die jetzt noch höchst lebendig ist: montags Pfadfinder, KAB, Gymnastikgruppe, Jugendchor; dienstags Pfadfinder, Kolpingfamilie, Rentnergemeinschaft; mittwochs Messdiener, Bastelgruppe; donnerstags Frauengemeinschaft, Kirchenchor, Gottesdienst der Grundschule. Samstags und sonntags Messe, mit am besten besucht in der ganzen Stadt. "Wie kann man dann sagen: Hier mache ich zu?", fragt Sebastian Glenz. Der ist 24 und Kirchenvorstadt wie sein Vater.

Viele schrieben das dem Bischof, mehr als 2000fach steht es auch in einer Unterschriftenliste. Als Nummer 2009 unterzeichnete der Moslem Ibrahim Gür: "Meine Kinder waren hier im Kindergarten. Es ist doch unvorstellbar, dass hier nichts mehr sein soll."

Überhaupt: die Jungen. 31 Messdiener hat St. Georg, und die kannten Bischof Genn. Dachten sie. Sie haben neben ihm am Altar gestanden in der Arena, beim Aussendungs-Gottesdienst zum Weltjugendtag im letzten Sommer. Da sagte er ihnen: Kommt zu Jesus, seid dabei! "Und jetzt macht er uns die Kirche zu", wiederholt Sebastian Glenz. Die Messdiener haben nun einen eigenen Brief geschrieben ans Bistum. Dass fremde Pfarrer fänden, sie seien die besten Messdiener im Dekanat, steht darin. Und die Frage des achtjährigen Vitus, gestellt an einem Morgen noch vor der Schule: "Wo sollen wir denn später Messdiener lernen?" Und: "Alle finden es traurig, dass die Kirche geschlossen wird."

Vor allem die, die dabei waren nach dem Krieg, als sie das Gotteshaus mit ihren eigenen Händen wieder aufbauen mussten. Die heute sagen: "Hier ist meine Gemeinde, hier gehöre ich hin." Sie würden ja auch wieder etwas dafür tun. Wenn es um Geld geht (und darum geht es ja): Sie haben schon angeboten, selbst zu putzen. Und Gasöfen auf- und die teure Fußbodenheizung ausgestellt. Es sei doch so wichtig, sagt Sebastian Glenz, der Theologie studiert, "dass die Leute hier eine Art Heimat behalten." Nichts gegen St. Augustinus, wozu St. Georg bald gehören soll. Aber Zuhause ist woanders, Zuhause ist hier. An der großen Kreuzung, am Knotenpunkt zwischen Altstadt und Schalke, neben der Kneipe "am Dom".

Und gegenüber der ehemaligen Methodisten-Kirche. Vom Portal von St. Georg sieht man ihr direkt in die Fenster. Sie steht schon ein Jahr leer.
Samstag 11. Februar 2006 | Quelle: WAZ

 

Aktives Gemeindeleben steht nun auf dem Spiel


Seit vier Jahren ist Tochter Birte (13) Messdienerin in der Gemeinde St. Georg, gestaltet sogar ab und zu das Info-Heft "Ministranten-Spiegel" mit. Wenn die Kirche an der Franz-Bielefeld-Straße ab 2007 keine Steuermittel mehr erhalten und vor der Schließung stehen sollte, wird die 13-Jährige ihr Engagement für die katholische Kirche wohl aufgeben. "Dann bricht die ganze Gruppe auseinander", ist sich Birte sicher.

von Tobias Ertmer

Familie Roether nahm bisher aktiv am Gemeindeleben teil. Sohn Sebastian (24) war früher ebenfalls bei den Messdienern, Vater Norbert Roether (46) engagierte sich sechs Jahre im Kirchenvorstand. Und auch Angelika Detmer-Roether (45) besucht regelmäßig die Messen in der fast 100 Jahre alten Kirche. Von der Nachricht, dass das Gotteshaus ab 2007 keine Gelder aus dem Bistum mehr erhält und man sich damit von der Kirche trennen will, war die gesamte Familie überrascht: "Wir fühlen uns verschaukelt. Offenbar haben die Gemeinden, in denen getrommelt wurde, Erfolg gehabt. Und wir wurden so lange in Sicherheit gewogen", sagt Norbert Roether.

Brief an den Bischof geschickt

Die Familie beteiligt sich an den Protestaktionen der Gemeinde, hat wie rund 650 andere Gelsenkirchener bisher für den Erhalt unterschrieben. Norbert Roether schrieb sogar einen persönlichen Brief an Bischof Genn und Generalvikar Thönnes: "Wir sind entsetzt, dass Sie als christlicher Hirt uns einfach abschieben. Wir bitten Sie, zu Ihrem Wort zu stehen und unserer Gemeinde einen Besuch abzustatten, wo Sie sich persönlich ein Bild von unserer Gemeinde/Kirche verschaffen und sich einem bislang nicht erfolgten Dialog stellen können." Der Eingang des Briefes wurde vom Bistum bestätigt, jetzt warten Eltern und Kinder auf eine Antwort. Dass es dabei auf den Erhalt von St. Georg hinauslaufen könnte, will aber niemand so recht glauben. Auch, wenn sich mittlerweile die Politik eingeschaltet hat. So schlug Frank-Norbert Oehlert (CDU) jetzt vor, eine Stiftung zu gründen und so die Kirche zu retten.

"Ich denke, die Entscheidung wird nicht mehr zurückgenommen", sagt Angelika Detmer-Roether. Für diesen Fall hat die Familie bereits eine Entscheidung getroffen. "Wir werden nicht nach St. Augustinus wechseln, sondern die Messen in der Kirche Heilige Familie Bulmke besuchen", so Norbert Roether. Mit dem Engagement der Familie für die katholische Kirche ist es dann allerdings vorbei...
23. Januar 2006 | Quelle: Buersche Zeitung (Gelsenkirchen)

 

 

Wütende Katholiken werden Protestanten
ST. GEORG: Gemeinde wehrt sich gegen Kirchenschließung

Wenn Katholiken zu Protestanten werden, hat das nicht immer etwas mit einem Wechsel der Konfession zu tun. So zum Beispiel in St. Georg – hier formiert sich der Widerstand gegen die Schließung des Gotteshauses zwischen Flora- und Franz-Bielefeld-Straße. Am Dienstagabend wurde ein gemeinsamer Brief an den Bischof formuliert.

Mehr als 150 Gläubige waren der Einladung ins Liebfrauen-Stift neben der Kirche gefolgt. Eingeladen hatte der ehemalige Pfarrgemeinderatsvorsitzende Reinhard Glenz, dessen Sohn Sebastian Glenz, Michael Wegener (Mitglied im Kirchenvorstand) und Katharina Huyeng. Auch Gemeindemitglied und Pfarrgemeinderatsmitglied Hermann Stenns nahm an der Moderation des Abends teil. Dabei sollte es vor allem darum gehen, über die bisherige Entwicklung zu informieren und weitere Schritte gegen die geplante Kirchenschließung von St. Georg abzustimmen. Wie aufgeheizt die Stimmung in der Gemeinde ist, zeigte die Begrüßung durch Reinhard Glenz: "Herr Bischof, so können Sie mit mündigen Christen nicht umgehen", richtete er seine Worte ans Bistum.

"Probleme mit Bodenpersonal"

In Bezug auf die anfängliche Planung, St. Georg als Filialkirche aufrecht zu erhalten (Hirtenbrief von 2005), sagte Glenz: "Das zeugt nicht von Führungsqualität, wenn der Chef am Ende umfällt und anders entscheidet."

Der scharfe Tonfall gegenüber Bischof Dr. Felix Genn und dem Generalvikariat wurde auch in dem offenen Brief beibehalten, der der Gemeinde vorgelesen wurde. Hier war unter anderem davon die Rede, dass der Bischof die Gemeinde "auf übelste Weise getäuscht" habe. Über diese und andere Stellen wurde noch zu fortgeschrittener Stunde heftig debattiert: "Der Zorn ist ein schlechter Ratgeber, und wir wollen den Bischof nicht verärgern", mahnte Heinz Donauer zur Mäßigung. Gabriele Hollmann-Bielefeld, CDU-Stadtverordnete, meinte: "Der Brief ist auch in seiner Schärfe so in Ordnung. Ich habe keine Probleme mit Gott, nur mit dem Bodenpersonal. Das was hier passiert, ist eine Arroganz der Macht." Am Ende einigte man sich auf eine entschärfte Fassung.

Die weitere Planung der Proteste: Es werden T-Shirts gedruckt, Plakate aufgehängt und täglich finden von 11 bis 23 Uhr vor der Georgskirche Mahnwachen statt. -tob

Den offenen Brief finden Sie in Auszügen als "Dokumentation" auf unserer vierten Lokalseite.
Donnerstag, 19. Januar 2006 | Quelle: Buersche Zeitung (Gelsenkirchen)

 

 

"Die Ziele des Bistums stehen fest"
Kein außerplanmäßiger Besuch von Bischof Dr. Felix Genn in den Gemeinden vorgesehen

"So eine Einladung wie der Brief von St. Georg ist wohl einmalig", heißt es in der Pressestelle des Bistums Essen über den offenen Brief an den Bischof (wir berichteten). Einmalig oder nicht – das geforderte große Gespräch zwischen Gemeinde und Bischof Felix Genn wird es wohl nicht geben.

"Der Bischof, der Generalvikar oder einer der beiden Weihbischöfe besucht ab Ende Februar die Kirchenvorstände, Pfarrgemeinderatsvorsitzenden und Priester. Darüber hinaus wird es keine Besuche geben", teilte gestern das Bistum auf Anfrage der Buerschen Zeitung mit.

Die Beratungen über die Reform seien abgeschlossen, jetzt sei daran auch nichts mehr zu ändern, erklärt das Bistum. Auch die Ziele der Reform stünden bereits fest, Kompromisse seien nicht mehr vorgesehen.

Während das Bistum Essen also an der Umstrukturierung fest hält, überlegen die Menschen in den Gemeinden, wie mit der Situationen umzugehen ist.

In Hassel hat man sich für eine Lichterkette entschieden, in St. Georg wird der bereits begonnene Protest noch weiter ausgebaut. So ist geplant, vor dem heutigen Neujahrsempfang der Stadt mit rund 750 geladenen Gästen im Musiktheater, ebenfalls mit einer Protestaktion auf die geplante Schließung der Georgskirche aufmerksam zu machen. -tob
Freitag, 20. Januar 2006 | Quelle: Buersche Zeitung (Gelsenkirchen)

 

 

Gemeinde wehrt sich gegen Schließung von St. Georg


Die Aufgabe von zehn katholischen Kirchen auf Gelsenkirchener Stadtgebiet (wir berichteten) stößt nicht überall auf Verständnis: In der Gemeinde St. Georg, Schalke, formiert sich bereits Widerstand gegen die überraschende Entscheidung des Ruhrbischofs Dr. Felix Genn.

von Tobias Ertmer

Zur Erinnerung: Bereits im vergangenen Jahr hatten sich die Gemeindemitglieder in St. Georg darauf eingestellt, der Propsteikirche St. Augustinus zugeordnet zu werden. Das allerdings mit der Einschränkung, dass das stattliche Kirchengebäude an der Franz-Bielefeld-Straße erhalten bleibt – als so genannte Filialkirche. "Da unserer Gemeinde im Juni vergangenen Jahres vom Bistum zugesichert wurde, unsere Kirche als Filialkirche zu erhalten, fühlen wir uns auf übelste Weise getäuscht und hinters Licht geführt", schreiben nun Kirchenvorstand und Pfarrgemeinderat in einem offenen Brief. Diese Zusage, vermuten die Gemeindemitglieder, sei nur abgegeben worden, um Reaktionen und Proteste von vorneherein auszuschließen. Solche Aktionen hatte es u.a. in der Middelicher Gemeinde St. Konrad gegeben – wo nun doch die Kirche als Filiale erhalten bleibt.

Der Kirchenvorstand: "Uns hat man über ein halbes Jahr lang in Sicherheit gewogen und nun wird uns ohne Vorwarnung und wirkliche Nennung von Gründen die Kirche genommen – ohne dass es noch die offizielle Möglichkeit eines Protestes gäbe." Im Bischofswort heißt es in der Passage über die Zukunft von St. Georg: "Die Prüfung hat ergeben, dass der Erhalt dieser Kirche als Gottesdienstort aufgrund ihrer Nähe zur Propstei nicht mehr verantwortbar ist."

"Hinterhältiges Verhalten"

Nach dem Verlesen der Entscheidung am Samstagabend und Sonntagmorgen haben sich an der Franz-Bielefeld-Straße die Gottesdienstbesucher zusammengetan, um gegen die Entscheidung des Bischofs "demonstrativ vorzugehen". "Solch ein ungerechtes und hinterhältiges Verhalten von Seiten des Bistums kann man gerade als christliche Gemeinde nicht hinnehmen", so der Kirchenvorstand weiter. Um möglichst schnell gegen die Beschlüsse von Bischof Dr. Felix Genn vorgehen zu können, wollen sich die Gläubigen bereits heute Abend, 20 Uhr, im großen Saal des Liebfrauenstiftes an der Franz-Bielefeld-Straße 42 treffen.

"Sämtliche Institutionen, Vereine und Verbände unserer Gemeinde sind über dieses Treffen informiert und wollen daran teilnehmen", heißt es. Unterzeichnet wurde der Protestaufruf von Reinhard Glenz (Kirchenvorstand und letzter Pfarrgemeinderatsvorsitzender), Sebastian Glenz (Kirchenvorstand und Gemeinderatsmitglied), Michael Wagener (Kirchenvorstand) und Katharina Huyeng (Messdiener-Leiterin).
Dienstag, 17. Januar 2006 | Quelle: Buersche Zeitung (Gelsenkirchen)

 

 

Kirchen vor dem Aus - Bischof setzt Rotstift an


Das Bistum Essen hat den Rotstift angesetzt – und trennt sich allein in Gelsenkirchen von zehn Kirchen. Ruhrbischof Dr. Felix Genn stellte jetzt die Neuordnung des katholischen Lebens im Ruhrgebiet vor: Bis Ende 2008 werden in Gelsenkirchen 16 katholische Gemeinden aufgelöst. In den Gottesdiensten am Wochenende wurden die Entscheidungen als Bischofswort verlesen.

von Tobias Ertmer

Die Ausgangslage

Bei der Gründung des Ruhrbistums vor 48 Jahren lebten hier insgesamt 1,5 Millionen Katholiken zusammen. Heute sind es nur noch 940 000 Menschen, die katholischen Glaubens sind. "Eine fatale Entwicklung für uns, da wir fast ausschließlich auf Kirchensteuereinnahmen angewiesen sind", sagt Bischof Dr. Felix Genn.

Die Reform

Bistumsweit werden aus 259 Pfarrgemeinden 42 Pfarreien mit ihren Untergemeinden. 96 von 350 Kirchen werden aufgegeben. Damit will Bischof Genn rund 15 Millionen Euro pro Jahr einsparen. Zunächst werden in Gelsenkirchen die Pfarrgemeinden und die Dekanate aufgelöst und Schritt für Schritt in vier große Pfarreien überführt.

Personalabbau in den Pfarreien

Diese sind St. Urbanus (mit sieben Gemeinden und drei Filialkirchen), St. Augustinus (mit fünf Gemeinden und zwei Filialkirchen), St. Joseph (mit vier Gemeinden und einer Filialkirche) sowie St. Hippolytus (mit drei Gemeinden und zwei Filialkirchen). Zehn Kirchen werden aufgegeben – sie erhalten spätestens ab 2007 keine Kirchensteuermittel mehr. Für den Personalabbau sind die Verantwortlichen vor Ort zuständig: "Es wird eine Reduzierung geben", kündigte Stadtdechant Wilhelm Zimmermann an. Von 2 000 Stellen im Bistum soll nach unseren Informationen jede zweite gestrichen werden. Bis Ende 2008 soll das Konzept greifen.

Die Verlierer

In Gelsenkirchen gibt es klare Verlierer – dazu zählt die Kirche St. Georg in Schalke. Die Gemeinde, fast 100 Jahre alt, wird der Altstadt zugeordnet. Das Gebäude steht vor dem Aus. Die finanzielle und personelle Ausstattung der Pfarrei sei wegen der Nähe zur Propsteikirche nicht mehr zu verantworten. Weitere Verlierer sind die Gläubigen in Hassel: St. Pius mit Randlage wird als einzige Kirche erhalten, St. Michael und St. Theresia werden aufgeben. In Theresia wird jedoch das Pfarrzentrum weitergenutzt. Die Idee der Gemeinden, die Michaelskirche zu wählen, wurde nicht aufgenommen. Ebenfalls zu den Verlieren werden sich die Bewohner der Bergmannsglücksiedlung zählen – sie verlieren Christus König als Kirche. Und in St. Ida steht das Ökumenische Zentrum in der Resser Mark auf der Kippe – die katholische Kirche wird sich wohl zurückziehen.

Die Gewinner

Auch sie gibt es – die Gewinner. Zum Beispiel die Gemeinde St. Konrad, die Mariä Himmelfahrt angeschlossen wird und ihre Kirche als Filiale behält. Ebenso kann sich St. Franziskus freuen: Hier rückte das Bistum von der Kirchenschließung ab, das Gotteshaus bleibt eine Filiale von Hl. Dreifaltigkeit Bismarck. Auch die St. Barbara-Gemeinde in Erle hat ihr Ziel erreicht, an die Pfarrgemeinde St. Urbanus angeschlossen zu werden.

Die Zukunft

Ende Januar beginnen die Gespräche des Bischofs und seiner Vertreter mit den Kirchenvorständen in den Gemeinden. Dann wird auch über die Zukunft der Kirchengebäude beraten – werden sie abgerissen, verkauft oder anders genutzt? Bischof Genn: "Ich kann mir zum Beispiel nicht vorstellen, aus einer Kirche eine Moschee oder einen Nachtclub zu machen." Laut Stadtdechant Zimmermann gibt es bereits Interessenten für manche Kirchen. Zimmermann: "Ich könnte mir die Einrichtung einer Seniorenanlage gut vorstellen." An einem Ritual für die Entweihung der Kirchen wird bereits gearbeitet.
Montag, 16. Januar 2006 | Quelle: Buersche Zeitung (Gelsenkirchen)